Ralf Tiemann
Iserlohn Vier Meter nach vorn, drei Meter zur Seite – so lauten aktuell die Abstandsregeln, wenn man gemeinsam singen möchte. Man kann sich ausrechnen, was für Räume man braucht, wenn man schon mit einem kleineren Chor von 20 bis 25 Sängern proben möchte – geschweige denn auftreten. Singen? Ist grundsätzlich erlaubt, unter diesen Umständen aber schlichtweg nicht möglich – jedenfalls für kleinere Chöre, die sich zum Spaß und für die Gemeinschaft treffen
„Das Chorleben ist komplett zum Erliegen gekommen“, sagt Sieglinde Kuhlmann, die irgendwann nach Corona den Vorsitz des Kreischorverbandes Iserlohn übernehmen soll. „Es ist, auf gut Deutsch, eine Scheißsituation“, findet Helmuth Wegener, der coronabedingt den Vorsitz noch inne hat, sehr klare Worte für das, was den Chören in Iserlohn und überall derzeit widerfährt. Es gebe Chöre, die versuchen, draußen etwas zu machen oder per Whatsapp den Kontakt halten. Aber Singen mit den beschriebenen Abständen auf einer Wiese, da höre man gar nichts, das sei eher ein Witz. Und nichts könne am Ende die Gemeinschaft und die Geselligkeit bei den Proben, das normale Chorleben und die Freude am gemeinsamen Singen aufwiegen.
Die soziale Komponente der nun schon seit einem halben Jahr andauernden Chorpause, die nach aller Voraussicht auch noch bis mindestens Ende des Jahres anhalten werde, wiegt auch für Sieglinde Kuhlmann viel schwerer als der musikalische oder der finanzielle Verlust. Gerade für ältere Mitglieder sei der fehlende persönliche Kontakt wirklich schlimm. Die Angst gehe um, dass sich einige ältere und ohnehin schon angeschlagene und überalterte Chöre nach der Pause gar nicht mehr aufraffen können. „Wer weiß, ob wir uns alle danach wieder zusammenfinden werden“, lautet die bange Frage, die sich auch Helmut Wegener stellt. Er habe schon von dem einen oder anderen Chor gehört, bei dem die Zukunft durch Corona wirklich auf der Kippe steht.
Die finanziellen Verluste machten sich inzwischen aber auch deutlich bemerkbar. Denn die Kosten für das Chorleiterhonorar oder die Saalmiete liefen ja weiter. Bei einer Durchschnittsgröße von 20 bis 25 Sängern und einem Jahresbeitrag von pro Kopf 100 Euro habe ein Chor in der Regel nur an die 2500 Euro im Jahr zur Verfügung. Allein das Chorleiterhonorar liege aber bei 300 bis 400 Euro im Monat. „Man kann sich da leicht ausrechnen, dass kein Chor ohne Zusatzeinnahmen aus Konzerten oder Auftritten bei Geburtstagen oder Hochzeiten auskommt“, sagt Wegener. Doch derzeit sei all das ja nicht möglich. Es gebe zwar Finanzhilfen des Landes auch für Vereine für Laienmusik und Brauchtumsvereine, die jeder Chor über den Chorverband beantragen könne, viel sei das aber nicht.
Alma Dauwalther hat sich erstmal von Chören getrennt
Jeder Chor versuche unter diesen Umständen, seine Chorleiter auch in der Krise zu bezahlen. Doch das sei nur für eine begrenzte Zeit möglich. „Meine Chöre waren sehr solidarisch mit mir. Das hat mich sehr gefreut“, sagt etwa Alma Dauwalther, die zuletzt fünf Chöre geleitet hat. Fünf Monate hätten sie durchgehalten und seien enger zusammen gerückt. Dann ist die Dirigentin von sich aus auf die Chöre zu gegangen und hat um die Auflösung der Verträge gebeten. „Das ging nicht so weiter“, sagt sie, „ich kann kein Geld für etwas bekommen, was ich nicht tue“. Nun hat sie keinen Chor mehr und bezieht Arbeitslosengeld. Und sie geht davon aus, dass es vielen Chorleiterinnen und Chorleitern ähnlich geht. „So traurig sieht es derzeit aus“, sagt sie. Alles werde gelockert, nur das Singen nicht. „Und gerade das Singen vermissen die älteren Menschen sehr.“ Dennoch blickt sie optimistisch in die Zukunft. „Wir kommen da durch. Viele Chöre unternehmen auch andere Dinge, um den Kontakt zu halten.“ Auch Sieglinde Kuhlmann versucht Optimismus zu verbreiten. „Ich hoffe und glaube, dass die Chöre trotzdem schöne Erlebnisse haben“ – auch wenn es derzeit nicht mit „Gesang direkt in die Herzen der Menschen“ gehe.
Lebenserhaltungsmaßnahmen nach der langen Pause
Etwas anders sieht die Situation bei den großen Kirchenchören aus, denn der Verlust des Gesangs in den Kirchen wiegt sehr schwer, die Festlichkeit geht an vielen Stellen verloren und ein Weihnachtsfest ganz ohne Chöre mag sich niemand so recht vorstellen. Tobias Leschke, Leiter der katholischen Chöre an St. Aloysius, fährt beispielsweise den Probenbetrieb langsam wieder hoch. Mit den 16 Leuten vom Jungen Chor gehe das schon mit dem geforderten Abstand für ein Stündchen bei offenen Fenstern. Auch das große „Collegium Vocale“ möchte er in Kleingruppen bald wieder proben lassen.
„Das sind erst mal Lebenserhaltungsmaßnahmen, wir haben viel zu lange nicht geprobt, und es ist ja kein Ende in Sicht“, befürchtet auch er einen dauerhaften Schaden, wenn es nicht so langsam wieder losgeht. Ein richtiges Ziel für den Chor gebe es noch nicht. „Wir können unter diesen Bedingungen nicht auftreten.“ Was auch für die Kantorei an der Obersten Stadtkirche auf evangelischer Seite gilt. Doch auch da wird schon wieder geprobt, in kleinen Gruppen sowohl bei den Kindern und Jugendlichen als auch bei den Erwachsenen. Und die Seniorenkantorei? „Hallo?! Die ist voll da“, freut sich Kantor Hanns-Peter Springer über die begonnene Probenarbeit im schmucken Kirchgarten über die große Motivation bei den Senioren und die Dankbarkeit der Sängerinnen und Sänger, dass man wieder zusammenkommt.
Der Blick auf die kleineren Kirchenchöre ist aber auch hier eher bange. Die meisten Chöre pausieren bis mindestens Ende des Jahres. Wenn es wieder losgehen sollte, haben sie schon fast ein Jahr Pause hinter sich. Wie das die Chöre und die ganze Chorlandschaft verändert, wird man erst dann sehen. „Es ist zu befürchten, dass Corona wie ein Beschleuniger für die ohnehin schwierige Entwicklung bei den älteren Chören wirkt,“ sagt Leschke.
Ähnliches befürchtet auch Hanno Kreft, der verschiedene Chöre – weltlich und geistlich – leitet und bei dem als Soloselbstständiger als Sänger und Stimmbildner derzeit auch vieles wegbricht. Mit seinem Lüdenscheider Frauenchor probt er derzeit im Stadion, seinen Gerlingser Kirchenchor versorgt er auf digitale Weise. Seine Beobachtung: „In Corona zeigt sich ganz deutlich, wer wirklich interessiert am Singen ist, und wer nur so mitschwimmt“. Es trenne sich ein wenig die Spreu vom Weizen, und es gebe Chöre, die sehr engagiert von sich aus Wege suchen und finden, um zusammen zu bleiben, und andere, die die Krise wohl nicht überleben werden.
Wie viele andere im Chorgeschäft ärgert auch er sich maßlos über alle, die Corona leugnen, verharmlosen und durch ihr unbedachtes Verhalten viel aufs Spiel setzen. Die Soloselbstständigen seien die zweitgrößte Berufsgruppe in Deutschland, und viele gingen kaputt, wenn sich die Lage wieder verschärfe oder die Normalisierung bei Konzerten und Veranstaltungen zu lange auf sich warten lasse. „Wir müssen lernen, verantwortungsvoll mit dem Nächsten umzugehen. Die Leute denken aber leider nur an sich.“